Das Wunder von Pskow – zum zweiten Mal
Freitag, 23.05.03
Etwas aufgeregte Spannung bei Schüler/innen und Betreuer/innen, als sie am Freitagmorgen den Bus zum Frankfurter Flughafen bestiegen. Wird alles so klappen, wie es geplant war? Werden wir zeitig genug am Flughafen sein? Machen wir dort alles mit dem vielen Gepäck richtig? Machen Passkontrolle und Zoll in St. Petersburg kein Theater? Vergessen war der Stress der Vorbereitung, der Ärger mit sturen russischen Bürokraten, jetzt hieß es nach vorne schauen.
In St. Petersburg die erste kleine Überraschung: Als wir dort kurz vor 20.00 Uhr Ortszeit ankamen, war bald Feierabend für alle Beamten, es ging alles ruck-zuck, sie hatten wohl keine Lust mehr. Der Reisebus aus Pskow wartete schon, gegen 1.00 Uhr Ankunft im Hotel Rischskaja (Hotel Riga) in Pskow. Gute Geister aus dem HPZ hatten die Zimmer liebevoll mit Getränken, Süßigkeiten und Obst bestückt, auf jeder Tür prangte „Herzlich willkommen“. Die erste Etappe war geschafft.
Samstag, 24.05.03
Swetlana Andrejewa, Stellvertretende Schulleiterin des HPZ und russische Projektleiterin, hatte (wie konnte es auch anders sein) alles perfekt organisiert und das unter viel schwierigeren Bedingungen als in Deutschland. Später waren auch die Schüler/innen des HPZ und des College da und nachdem die Technik in Ordnung gebracht wurde, gab es schon die ersten Proben im Konferenzsaal des Hotels. Ungewohnte Klänge waren gut vernehmlich in der Lobby des Hotels zu hören. Musikschüler der Jugendbläserschule Pskow, die am nächsten Tag gemeinsam mit „MbI BMECTE“ spielen sollten, kamen zur Begrüßung. „Wir freuen uns, mit so berühmten Künstlern zusammen spielen zu dürfen.“ sagte ein sympathischer junge Mann dieser Schule. Ein ehrliches Kompliment!
Sonntag, 25.05.03
Wieder ein wunderbarer, wolkenloser Tag. Die besten Voraussetzungen für den ersten großen Auftritt, das Platzkonzert gemeinsam mit dem Jugendblasorchester der Stadt Pskow am Puschkin-Denkmal. Puschkin hat viele Jahre im Pskower Gebiet gelebt und dort berühmte Werke geschaffen. Er wird in Russland sehr verehrt, aber in Pskow ganz besonders, wovon die vielen frischen Blumen, die am Denkmal Sommer wie Winter abgelegt werden, zeugen.
Ein historischer Platz der Kultur! Es kam, wie wir es uns insgeheim erhofft hatten. Der Platz füllte sich mehr und mehr und die Menschen tanzten zur Musik. Am Ende waren es mehrere Hundert! Eine wunderbare Stimmung an diesem schönen Platz! Die erste Kraftprobe war gelungen, die 1. Spur gelegt, was sollte uns jetzt noch passieren?
Montag, 26. Mai 2003
Der erste Stadtbummel zeigte uns Pskow von seinen schönen Seiten. Selbstverständlich wurde wieder bei den Proben hart gearbeitet, manche Stücke „saßen“ noch nicht so gut.
Dienstag, 27. Mai 2003
Ein Tag mit gemischten Gefühlen. Der Auftritt im Internat (Heim) für Kinder mit geistigen Behinderungen in Bobrowski stand an. Was erwartet uns dort, dürfen alle Kinder des Heimes beim Auftritt dabei sein, wie sind die Zustände dort. Bange Fragen.
Nach 1 ½-stündiger Fahrt über holprige Wege ins Niemandsland an der Grenze zu Estland dann doch ein freundliches Bild. „Herzlich willkommen” stand auf der Hauswand und „MbI BMECTE“ (Wir gehören zusammen). Stuhlreihen waren auf dem Platz vor dem Heim aufgebaut, Bettchen für die schwerstbehinderten Kinder aufgestellt. Hinter den Scheiben drückten sich die Kinder die Nasen platt. Und dann kamen sie aus dem Haus gestürmt, einige wurden von ihren Betreuerinnen getragen. Schnell hatte die Band eine stimmungsvolle Atmosphäre geschaffen, es wurde mitgeklatscht und gestampft. Ein kleiner, blasser Junge in einem Bettchen, zuerst apathisch, fing auf einmal an, sein Händchen im Rhythmus der Musik zu drehen und schien ganz ungläubig über das, was geschah . Die Schüler/innen der Band luden einige zum Mitmachen mit Rhythmusinstrumenten ein, Geschenke wurden verteilt.
Beim kleinen Waldspaziergang trug Sabrina aus der Rurtal-Schule ein kleines Mädchen über eine große Pfütze. Rührende Szenen…. Ein unglaublich bewegender aber auch nachdenklicher Tag für alle ging zu Ende. Die nächsten Spuren waren tief eingegraben.
Mittwoch, 28.05.03
Das nächste Großereignis zum 10-jährigen Jubiläum des HPZ stand an. Das Russische Bildungsministerium eröffnete einen großen Kongress zur Förderung und Integration von Kindern und Jugendlichen mit geistigen Behinderungen. Das Zustandekommen dieser bildungs- und gesellschaftspolitisch so enorm wichtigen Veranstaltung ist vor allen Dingen der jahrelangen konsequenten inhaltlichen und pädagogischen Arbeit der Rurtal-Schule in Pskow zu verdanken.
Die Band „MbI BMECTE“ durfte zum Auftakt zwei Stücke aus ihrem Repertoire spielen, es gab freundlichen Beifall von den „wichtigen“ Damen und Herren. Es sollte später aber anders kommen. Schulleiter Bernd Schleberger, einer der Hauptredner am Eröffnungstag bekam einen „dicken Hals“, als eine bekannte Professorin aus St. Petersburg über unsere behinderten Menschen als „Kinderkategorie” oder „Menschenkategorie“ sprach. Hier werden Menschen auf ihre Defizite hin reduziert. Am frühen Abend waren Veteranen der Stadt Pskow zu Gast bei „MbI BMECTE“. Im Kulturzentrum der Stadt spielte zunächst die Militärkapelle der Stadt Pskow auf. Und welche Überraschung: sie überzeugten mit virtuoser, moderner und einfallsreicher Musik, es war Musikgenuss vom Feinsten! Endlich auch etwas für uns.
Die deutsch-russische Schülerband rührte die alten Leute, vorwiegend Frauen, darunter auch viele, deren Männer im Krieg gegen Deutschland gefallen sind, zu Tränen. Versöhnung und Begegnung wurden in besonderer Weise lebendig. Selten haben wir ein so bewegendes „Danke“ und „Dankeschön“ (auf deutsch!) gehört. Im Hotel zurück dann großes „Hallo“. Die kleine Delegation von Rurtal-Schule und Hauptschule Oberbruch war nun auch eingetroffen und wollte die folgenden Höhepunkte miterleben.
Donnerstag, 29.05.03
Die nächsten Auftritte. Zunächst ging es zum Frühförderzentrum für Kinder mit geistigen Behinderungen im Vorschulalter, das gerade seine Arbeit aufgenommen hat und gemeinsam von Rurtal-Schule und HPZ aufgebaut wird. Durch die mit dem Projekt „Spuren legen …“ gleichzeitig laufende Benefizaktion für behinderte Kinder in Pskow konnte „MbI BMECTE“ dem Frühförderzentrum einen appetitlichen Wickel- und Pflegeraum schenken.
In einer kleinen aber stimmungsvollen Feier überreichten Schüler/innen der Rurtal-Schule und des HPZ der Leiterin, Frau Jelena Satina, symbolisch den Schlüssel zu diesem Raum und zur großen Überraschung ein Bällchenbad für die Kinder.
Weiter ging es zum College für Kultur und Kunst zum Begegnungsfest. Was für schöne Stunden! Die Schüler/innen des College empfingen unsere Musiker am Eingang in Folklore-Kostümen im Spalier, klatschten Beifall, einige kannten sich ja schon von vor zwei Jahren. Im Theatersaal dann zunächst der Auftritt von „MbI BMECTE“. Die Schüler/innen des College sangen und tanzten mit, schafften eine tolle Atmosphäre. Anschließend führten sie ihre Tänze und Gesänge für unsere Schüler auf. Ein wunderbares Fest der Völkerverständigung und Begegnung! „Kommt bald wieder“ hieß es beim Abschied.
Schulpflegschaftsvorsitzender Willi Gehrmann hielt indessen im Kongress des Bildungsministeriums einen Vortrag über die Situation eines Vaters eines behinderten Kindes.
Am späten Abend konnten wird dann bekannte Gesichter aus der Evangelischen Kirchengemeinde Wassenberg begrüßen, die zum großen Konzert und natürlich zum Jubiläum „ihres“ HPZ mit dem Bus angereist waren.
Freitag, 30. Mai 2003
Der Tag des großen Auftritts, Spannung und Nervosität steigen, aber alle verhalten sich großartig und diszipliniert. Schulleiter Bernd Schleberger treibt sich in der Abschlussrunde des Kongresses herum, ihn beschäftigt jedoch nur eine Frage: „Woher bekomme ich 40 rote Rosen für die Band?“ Nicht so einfach in einer russischen Provinzstadt. Irgendwann entdecken wir auch Landrat Karl Gruber und Sparkassendirektor Dr. Richard Nouvertnè, die aus St. Petersburg angereist waren und Konzert und Jubiläum des HPZ miterleben wollten.
Kurz vor 19.00 Uhr die erste Erleichterung: der Konzertsaal mit über 900 Plätzen war prall gefüllt. Es konnte losgehen. Pskower Musiker gestalteten in 3 Teilen das „Vorprogramm“, Pause und dann
„MbI BMECTE – Wir zusammen“
Anders als vor zwei Jahren war die Atmosphäre schon von Anfang an großartig. „Unsere“ Schüler/innen aus dem College waren alle gekommen und machten für „ihre“ Musiker eine prächtige Stimmung. Die deutsch-russische Schülerband präsentierte sich als geschlossene Einheit und bot mit ihrem Programm beste Unterhaltung mit musikalischer Qualität. Was sie aber besonders auszeichnet: Ihr Charme, ihre Lebensfreude und ihre Solidarität untereinander. Als Daniel Stolz, den wir für das Projekt „ausgeliehen“ hatten, seine wunderbare Interpretation des Beatles-Songs „Let It Be“ vortrug, brachen beim Publikum endgültig alle Dämme. Stehende Ovationen und Bravo-Rufe brachen über ihm und die Band herein. Beate Theißen und Swetlana Andrejewa, die beiden charmanten Moderatorinnen hatten Mühe, das Publikum zu beruhigen. Fortan verfolgten 900 Zuhörer die nächsten Songs nur noch tanzend und im Stehen. Ein tolle Party mit Gästen aus Deutschland, Belgien, Holland, Schweden und USA. Die würdigen Herrschaften aus dem Kongress legten jegliche Zurückhaltung ab und staunten nur noch über diese „Menschenkategorie“.
Mit dem vorletzten Stück „Those Were The Days“, ein stimmungsvolles russisches Zigeunerlied, auf englisch, russisch und auf „kölsch“ mit der Überleitung zu „Superjeile Zick“ von Brings, tobte der Saal. Einfach großartig!
Dann als Finale die „Hymne“ der Band, das Friedenslied „MbI BMECTE“ auf russisch und deutsch, ein wunderschönes stimmungsvolles Lied, komponiert von Vadim Andrejew, dem Ehemann von Swetlana Andrejewa. Die roten Rosen waren auch auf der Bühne bei den Musikern angekommen, ein wunderbares Bild! Hunderte Menschen fassten sich an den Händen und schwangen und sangen unter Tränen im Rhythmus des Liedes mit.
„Spuren legen … für Frieden, Toleranz und Integration“ – lebendiger konnte diese Botschaft nicht sein. Eine kleine Zugabe, dann war Schluss. Schluss? Wildfremde Menschen kamen auf die Bühne und küssten uns, weinten dabei. Was für große Emotionen!
Ein Tontechniker: „Das war das Beste, was wir seit zwei Jahren hier erlebt haben!” Vor exakt zwei Jahren hatten wir unseren Auftritt … Und: „Was macht ihr eigentlich jedes Mal mit unserem Publikum, dass sie so begeistert mitmachen?“Am Abend wurde schließlich ein großer Auftritt gefeiert.
Samstag, 31. Mai 2003
10 Jahre HPZ, 10 Jahre, an denen die Rurtal-Schule so intensiv beteiligt war. Unser Partner hatte ein wirklich schönes Fest vorbereitet und präsentiert mit vielen Vorführungen und Aktionen (manche Idee schien uns auch aus der Rurtal-Schule bekannt). Endlich hatten wir selber Ruhe, uns auf uns selbst zu besinnen und etwas zu konsumieren. Der Tag im HPZ mit vielen Gästen verlief in einer ungewöhnlich friedlichen Atmosphäre. Danke HPZ!
Sonntag, 1. Juni 2003
Dieser Tag bescherte uns die große Politik, die sich am selben Wochenende in St. Petersburg selbst feierte und dabei die Menschen, auf die es eigentlich ankommt, aussperrte. Wir durften am 1. Juni nicht wie geplant ausreisen. Swetlana Andrejewa hatte sich natürlich etwas einfallen lassen und eine Landpartie am Pskower See organisiert. Ein Ferien- und Erholungstag für uns alle.
Gegen Mitternacht dann die Abfahrt nach St. Petersburg, weil die russische Airline „Pulkovo“ ganz früh am Morgen nach Düsseldorf flog. Oberbürgermeister Michail Choronin kam eigens zur Verabschiedung mit einem großen Dankeschön. Auf Wiedersehen! Doswidanja!
Montag, 2. Juni 2003
Alles klappt wie am Schnürchen, in Düsseldorf werden wir schon mit einem großen Reisebus erwartet. Und was für eine Überraschung als wir in den Hof der Rurtal-Schule einbogen! Alle Schüler der Rurtal-Schule und Schüler der oberen Jahrgänge der Hauptschule bereiteten einen großen Empfang, sogar ein roter Teppich war ausgerollt, der Song „We have a dream“ schallte uns entgegen. Wunderbar! Und schon wieder diese Freudentränen.
Wiederholen sich Wunder? Es ist wohl so. Und irgendjemand dort oben hat seine schützende Hand über „seine“ so großartige Truppe gehalten. Wir reden nicht wie Politiker über Frieden und Versöhnung und sperren dabei die Menschen aus, sondern wir praktizieren sie unverbraucht und im besten Sinne „unschuldig“. In Pskow haben wir mit unserer Botschaft die Herzen von tausenden (!) Menschen erreicht. „Spuren legen … für Frieden, Toleranz und Integration“ war und ist ein großes Geschenk für alle. Bald danach kam eine kleine Delegation aus Pskow mit 2 Schüler/innen, die am Projekt teilgenommen hatten. Sie haben „Rur-Rock – Wir zusammen“ beim Konzert mit den „Bläck Fööss“ am 19. Juni verstärkt! Nebenbei und doch ganz wichtig:
Die Benefizaktion des Projektes brachte bisher
8.500,00 € für das Frühförderzentrum 4.000,00 € für die beiden Heime für geistigbehinderte Kinder im Pskower Gebiet.